04/03/2020

Poetry Slam: Wie geht's dir?


Wie geht’s dir?


Ein Blick in den Spiegel reicht meist schon aus. Dieser eine kurze, schnelle Blick im Vorbeilaufen, auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit, reicht aus, um Unsicherheit und Unbehagen zu schüren. Ich sehe mich an und fühle mich direkt unwohl in meinem Körper, mir wird übel, weil ich viele kleine Fehler an mir entdecke, die sich zu einem einzigen großen Fehler zusammenschließen; zu mir selbst, zu meinem ICH.

Denn wenn ich an mir runter blicke, sehe ich nur Dinge, die mir nicht gefallen, Dinge die ich abstoĂźend finde. Es gibt keinen Punkt, zu dem ich mal sage: „Wow, das gefällt mir.“ Nein, mir fallen nur schlechte Aspekte an mir auf, wie eigentlich immer.

Und dann trete ich aus der Tür und mache mich auf den Weg zur Schule, da fängt es schon an; das Grübeln. Es geht den ganzen Tag so weiter: meine Gedanken werden immer verworrener und die Selbstzweifel immer größer: ich kann das nicht schaffen, ich bin nicht stark genug, ich bin nicht hübsch genug oder ich werde doch sowieso wieder Versagen, warum soll ich es dann überhaupt versuchen?

Ich bin so weit von perfekt oder wenigstens annehmbar entfernt, wie es nur geht, ich mache eigentlich alles in meinem Leben falsch: zu wenige Freunde mit denen ich was unternehmen könnte, denn mit anderen Menschen komme ich sowieso nicht so gut klar, ich verkrieche mich lieber in meinem dunklen und sicheren Loch. Da bin ich für mich, es kann mich keiner sehen oder auch den Versuch unternehmen ein Gespräch mit mir anzufangen. Ich kann kurz gesagt einfach nicht so viele Fehler machen.

Nur das Problem in meinem Loch ist, dass meine Familie dort ist, und mit ihr läuft es im Moment auch nicht richtig rund. Da heiĂźt es: „Komm und hilf mal eben schnell hier“ oder so ähnlich, dabei habe ich doch selbst auch noch genug Arbeit zu erledigen und einfach keine Zeit fĂĽr etwas anderes. Mit meinen Geschwistern gibt es jeden Tag Streit, und wenn es mal ausnahmsweise nur darum geht, wer als erstes ins Badezimmer darf, dann bin ich schon froh. Dann kommt noch dazu, dass Papa letzte Woche ausgezogen ist und sich seitdem nicht mehr hat blicken lassen.

Das Familienleben läuft, um es auf den Punkt zu bringen, komplett aus dem Ruder.

Zudem ist meine Ernährung zurzeit so schlecht, dass ich nur noch von fettigem und süßem lebe und bei jedem Mal wiegen der Zeiger einen kleinen Strich weiter nach rechts rutscht.

Ich bin eben ein einziger groĂźer Fehler, mit einem aus dem Ruder gelaufen Leben, aber nicht, dass ihr jetzt denkt, dass es heute immer noch so schlimm ist.

Nein, dass hätte ich, als das Kind, dass vollständig abgerutscht ist, vor Beginn meiner Behandlung, auf eine ganz einfache Frage wie beispielsweise: „Wie geht’s dir“ geantwortet. Jetzt, zwei Jahre später wĂĽrde ich antworten, dass auch mein Leben lebenswert ist, egal was andere auf dem Schulhof ĂĽber mich sagen und denken, denn so langsam bekomme ich mein Leben in den Griff: ich komme mit Freunden besser klar und auch wenn ich zuhause mal wieder um Hilfe gebeten werde, krieche ich gerne aus meinem Loch und gebe mein Bestes. Die Ernährungsumstellung klappt zwar noch nicht so gut, aber daran werde ich wohl noch einige Zeit weiterarbeiten mĂĽssen, denn es kann sich nicht alles auf einmal verändern.

Ich habe durch meine Therapie gelernt mich selbst zu akzeptieren und zu lieben, so wie ich eben bin.

Und wenn ich heute an einem Spiegel vorbeilaufe, bleibe ich ganz kurz stehen, dass einfach nur, um mir selbst vor Augen zu fĂĽhren, dass auch ich mit meinen vielen Fehlern und Macken gut so bin, wie ich eben bin, denn kein Mensch wird je perfekt sein!

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